Von der Nacht zum Tag – die Bahnhofsviertelnacht im Umbruch

Von der Nacht zum Tag – die Bahnhofsviertelnacht im Umbruch

#Kaisertor #Kaisersack #Bahnhofsviertel #Hauptbahnhof #Bahnhofsviertel #Kaiserstraße
Foto: DaN / Kaisertor am Kaisersack

Im Frankfurter Bahnhofsviertel findet man auf engstem Raum alles, was heutige Großstädte faszinierend aber auch problematisch macht. Moderne, anspruchsvolle Geschäfte, aber auch die sichtbare Drogenszene charakterisieren gleichermaßen diesen urbanen Mikrokosmos. Bisher präsentierte sich das Viertel während der jährlichen Bahnhofsviertelnacht. Seit 2023 wird die Nacht zum Tag.

Inhaltsverzeichnis

Angefangen hat es im Jahr 2008. Zur Feier des 120-jährigen Jubiläums des Frankfurter Hauptbahnhofs richtete die Stadt Frankfurt die Bahnhofsviertelnacht erstmals aus. Seitdem präsentiert sich das Viertel einem immer interessierteren Publikum. In der Bahnhofsviertelnacht öffnen Anwohner*innen und Anlieger*innen ihre Wohnräume, Arbeitsplätze, Ateliers, Läden, Werkstätten und Einrichtungen und zeigen allen Bewohner*innen, Tourist*innen und Gästen wie sie leben und arbeiten. Alle Teilnehmer*innen gestalten so ihre höchst eigene vibrierende Atmosphäre und eine besondere dynamische Energie.

Das Programm der Bahnhofsviertelnacht weitete sich im Lauf der Zeit immer mehr aus, sodass die Programmvorbereitungen zunehmend aufwändiger wurden. So stieg die Zahl der Führungen durch das „Milieu der Kontraste“ deutlich an, da es eine der wenigen Gelegenheiten bietet, Interessierten einen Blick in sonst verschlossene Räume zu gewähren. Zusätzlich zu dem erhöhten organisatorischen Aufwand sorgte im Jahr 2021 die COVID-19-Pandemie für weitere Verzögerungen. Vereine und Gastronomen waren außerstande, rechtzeitig mit den nötigen Planungen zu beginnen. Überdies behinderte der aus der Pandemie resultierende Arbeitskräftemangel im Veranstaltungssektor den üblichen Ablauf eines solchen Prozesses.

Erschwerend kam hinzu, dass die Organisatoren der Bahnhofsviertelnacht mit einem festen Budget auszukommen hatten und etwaige Mehrkosten nicht durch Kredite auffangen konnten. Entstehende Verlustkosten hätten die Organisatoren selbst tragen müssen.

Bei der Refinanzierung der Veranstaltung konkurrierte man zudem mit den Veranstaltern anderer Stadtfeste, wie dem Apfelweinfest und dem Museumsuferfest, um gedeckelte Zuschüsse.

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Video: mainLUX vom 15.08.2019 / Frankfurt feiert Bahnhofsviertelnacht.
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Video: Cream Music B.Hummel OHG vom 21.10.2011 / Bahnhofviertelnacht Frankfurt am Main Live HR Hessenschau.VOB.

Vor allem die „sicherheitsrelevanten Leistungen“ hätten die Veranstalter nicht vollständig finanzieren können. Gerade für die steigenden Besucherströme in den Abend- und Nachtstunden mussten die Straßen abgesperrt werden, was mehr privates Sicherheitspersonal und öffentliche Sicherheitskräfte nötig gemacht hätte. Deutlich sah man das in der zwölften Bahnhofsviertelnacht im Jahr 2019, als rund 50.000 Besucher*innen die Galerien, Kneipen, Kioske und Bars besuchten. Die Kostenexplosion belief sich von ursprünglichen 20 000 Euro auf beinahe 400 000 Euro, wovon allein das Sicherheitskonzept etwa 280 000 Euro betrug.

Zunächst pandemiebedingt sagte die Stadt Frankfurt die Bahnhofsviertelnacht für das Jahr 2020 ab. In diesem weltweiten Ausnahmejahr war es niemandem möglich, Tür und Tor zu öffnen. Um das bereits getätigte Engagement der beteiligten Programmstationen zu honorieren, fand die Bahnhofsviertelnacht in digitaler Form statt. Auf diese Weise konnten sich rund 50 Galerien, soziale Einrichtungen, Gewerbetreibende und Gastronom*innen zumindest online vorstellen, wo sie erläuterten, wie die Pandemie ihre tägliche Arbeit im Bahnhofsviertel beeinflusste.

Ein Viertel zeigt sich

  • Digitale Bahnhofsviertelnacht
    Die pandemiebedingten Einschränkungen betrafen unter anderem die 13. Bahnhofsviertelnacht 2020, die, wie alle öffentlichen Veranstaltungen, abgesagt wurde.
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Video: Stadt Frankfurt am Main vom 20.08.2020 / Bahnhofsviertelnacht Online

Die digitale Bahnhofsviertelnacht war mit einer Spendenaktion verbunden. Der Spendenerlös kam dem WESER5 Diakoniezentrum und der Bahnhofsmission zugute. Beide soziale Einrichtungen wirkten am Film mit.

Die unklare Lage im folgenden Pandemiejahr 2021 und die schwierige finanzielle Planungsphase führten dazu, dass die Stadt Frankfurt die nächste Bahnhofsviertelnacht absagte, um diese schlussendlich ab dem Jahr 2022 gar nicht mehr zu fördern. Als Gründe wurden die steigenden Kosten und die Ausweitung der Veranstaltung über ihr ursprüngliches Indoor-Konzept angegeben. Trotz der nachvollziehbaren Gründe waren Veranstalter*innen, wie beispielsweise der Besitzer des Yok-Yok-Kiosks Nazim Alemdar und Juanita Henning vom Verein Doña Carmen, von der Absage sehr enttäuscht.

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Foto: MJP / Bahnhofsviertel, Weserstraße.

Beide gehören zum Kreis der engagierten Gewerbetreibenden und Vereinsmitgliedern des Gewerbevereins Treffpunkt Bahnhofsviertel e.V., denen die Vermittlung eines realistischen Bildes des Stadtteils und dessen kultureller Vielfalt am Herzen liegt. Deshalb blieb man weiterhin am Ball und begann, die entstandene Lücke mit Alternativen zu füllen. So organisierte die Frankfurter Eventagentur The Hinge am 31. März 2023 das Event Bahnhofsviertel at Night. Angelehnt an Sachsenhausen at Night und Frankfurt at Night konnten Feierlustige in sechs Clubs bis in die Morgenstunden tanzen. Zudem begannen der Gewerbeverein Treffpunkt Bahnhofsviertel e.V. und der Wiesenhüttenplatz e.V. mit ersten Planungen für ihr nächstes Projekt AUF INS VIERTEL!, das Teil einer ganzjährig angelegten Kampagne ist.

Anders als zur Bahnhofsviertelnacht würde es ab 2023 keine behördlichen Straßensperrungen mehr geben. Das Bahnhofviertel bliebe spätabends und nachts für alle Feierlustigen und den Straßenverkehr geöffnet.

Nach Aussage des Mitorganisators Babak Farahani vom Kiosk Yok-Yok Eden am Wiesenhüttenplatz habe die Veranstaltung jetzt eine völlig andere Note. Da die Gewerbetreibenden das OPEN VIERTEL-Projekt selbst organisieren, erzeuge es im Viertel ein anderes Bewusstsein für den Aktionstag. Man müsse die Vorgaben des Stadtmarketings nicht mehr eins zu eins umsetzen, sondern schaffe es, den Bahnhofsvierteltag in Eigenregie zu stemmen. Das Event soll weiterhin helfen, das Bild des Stadtteils vorurteilsfreier und wertschätzender zu gestalten.

Davon beeindruckt zeigte sich die Stadt Frankfurt bereit, zukünftig als stiller Partner im Hintergrund zu wirken. Das Engagement der Gewerbetreibenden für den Bahnhofsvierteltag würde der Magistrat weiterhin finanziell honorieren. Wirtschaftsdezernentin Stephanie Wüst zufolge würde die Stadt künftig fünf Millionen Euro für ähnliche Stadtteilprojekte bereitstellen. Am 12. Oktober 2023 fand ein dritter Wirtschaftstag im Stadtviertel statt, an dem Handel und Gewerbe im Fokus standen und Aktionen in den Hinterhöfen stattfanden. Man wollte gemeinsam eine Lösung finden, die „repräsentative einstige Villa des Unternehmers Heinrich Kleyer am Wiesenhüttenplatz“ sinnvoll zu nutzen.

Im Jahr 2006 initiierte die Stadt Frankfurt ein erstes Förderprogramm, weil damals im Bahnhofsviertel nur noch 2.300 Einwohner*innen lebten. Man wollte Menschen dafür begeistern, in das Viertel zu ziehen. Künstler*innen und Kreative folgten dem Ruf, und Erlebnisse wie die damals noch junge Bahnhofsviertelnacht lockten zunehmend Neugierige ins Viertel. In der Folge eröffneten moderne Bars und Clubs. Die flirrende Atmosphäre dieser Aufbruchsstimmung fängt Journalist Carsten Hauptmeier ein:

#Bahnhofsviertel #Latin Palace Chango #Hauptbahnhof #HBF #Münchener Straße
Foto: DaN / Latin Palace Chango
in der Münchener Straße, Bahnhofsviertel.

Das Problemviertel wurde plötzlich ein Szeneviertel, zumindest in Teilen. Denn die meisten gefragten Adressen liegen rund um die Münchener Straße. Dort geht man eben ins Maxie Eisen, in die Bar Plank, den Künstlertreff, oder ins Walon & Rosetti, nur ein paar Meter entfernt in der Moselstraße. Auch ein Kiosk ist Kult. Dutzende Menschen stehen oft vor und im Yok Yok. Das bedeutet übersetzt so viel wie „Gibt’s nicht gibt’s nicht“. Heißt: Hier gibt’s alles.

Carsten Hauptmeier: Ein Viertel von Welt
#Bahnhofsviertel #Yok Yok Kiosk #Am Hauptbahnhof #Nazim Alemdar
Foto: DaN / Yok Yok Kiosk, vormals in der Münchener Straße, jetzt am Hauptbahnhof, Bahnhofsviertel.


Aktuell leben 3.700 Einwohner*innen im Bahnhofsviertel, und 23.000 Menschen haben hier ihren Arbeitsplatz. Eine bunte Mischung aus Besucher*innen, Tourist*innen und Pendler*innen bevölkert rund um die Uhr den Bahnhofsvorplatz. Allerdings gehören auch die offensichtliche Verelendung Obdachloser, ausufernder Drogenkonsum und Gewaltdelikte zu diesem regen Treiben.

#Bahnhofsviertel #Laufhaus Rotes Haus Frankfurt #Taunusstraße #Bordell
Foto: DaN / Laufhaus & Bordell Rotes Haus Frankfurt in der Taunusstraße, Bahnhofsviertel.

Als einstiges Herz der Vergnügungskultur präsentiert sich das Bahnhofsviertel heute noch so deutlich wie nie als ein Ort, der die dunkleren Facetten des menschlichen Daseins offenbart.

Madlen Trefzer: Zwischen Hochhäusern und Drogenkranken: Diese Party steigt im Frankfurter Bahnhofsviertel
#Moulin Rouge #Nachtclub #Moselstraße #Bahnhofsviertel
Foto: DaN / Nachtclub „Moulin Rouge“
in der Moselstraße, Bahnhofsviertel.

Die Stadtteilbewohner*innen möchten diesem Trend entgegenwirken. Dafür brauchen sie die Mithilfe vom Magistrat, der Polizei und der Frankfurter Zivilgesellschaft. Nach den Corona-Jahren sollen wieder mehr Menschen im Bahnhofsviertel essen, feiern, arbeiten und shoppen. Der vom Stadtmarketing der Stadt Frankfurt finanziell unterstützte Gewerbeverein Treffpunkt Bahnhofsviertel bleibt dafür die erste Anlaufstelle.

Die gut 50 Mitglieder des Gewerbevereins wollen den Handel und den Zusammenhalt im Viertel durch gezielte, nachhaltige und lösungsorientierte Gespräche stärken. In diesem sogenannten Stakeholder-Dialog zwischen den Vereinsmitgliedern und unterschiedlichen Institutionen und Gruppen will man sich vor allem gegenseitig ernst nehmen.

Darum stellt man keinerlei Forderungen aneinander. Ohne Offenheit, Ehrlichkeit sowie richtiges Zuhören geht gar nichts. Geduld füreinander aufzubringen ist wesentlich, genau wie Fremdes wertzuschätzen. Vor allem sollten die Gespräche nicht für Marketinganliegen genutzt werden.

Um die Gewerbetreibenden, Anwohner*innen, Institutionen und Kulturschaffenden in diesem Sinne zusammenzuführen, organisiert der Verein seit 2022 kontinuierlich Aktionen, Dialogreihen und Veranstaltungen. Alle sollen sich miteinander austauschen dürfen, damit sie weiterhin motiviert bleiben, den Stadtteil stetig zu beleben.

#FrankfurtamMain #Straßenbahnlinie11 #MünchenerStraße #Weserstraße #Bahnhofsviertel
Foto: MJP / Münchener Straße, Ecke Weserstraße im Bahnhofsviertel.

Die dafür eigens entwickelte Marke AUF INS VIERTEL! soll das besondere, stadtteilbezogene Gemeinschaftsgefühl veranschaulichen. Unter diesem Label entwickelte und verwirklichte der Gewerbeverein bisher:

  • Merchandise-Produkte im selbst gestalteten Auf ins Viertel!-Design
  • die Web-Applikation viertel.app
  • einen auf der Kaiserstraße eröffneten Pop-up-Store
  • eine digitale Schnitzeljagd und einen Weihnachtskalender
  • die Silvesternacht in den Clubs
  • verschiedene Dialogforen zum Bahnhofsviertel mit Akteuren des Viertels, der Politik und des Regionalrats
  • den Flohmarkt auf dem Francois-Mitterand-Platz

#Bahnhofsviertel #Münchener Straße
Foto: DaN / Münchener Straße im Bahnhofsviertel

Als Kompromiss für die entfallene Bahnhofsviertelnacht 2023 veranstalteten die Akteur*innen um den Gewerbeverein Treffpunkt Bahnhofsviertel e.V. am 9. September 2023 den ersten Bahnhofsvierteltag OPEN VIERTEL 2023. Die Stabsstelle Stadtmarketing der Stadt Frankfurt am Main unterstützte deren Engagement finanziell. Auch überregional gab es ein starkes mediales Echo. Die Premiere war rundum gelungen. Nach Aussagen der Veranstalter*innen sollen künftige OPEN VIERTEL genauso umfangreich werden wie die präpandemischen Bahnhofsviertelnächte. Darauf dürfen sich Besucher*innen jetzt schon freuen.

Konzept, Ablauf und Organisation des ersten Bahnhofsvierteltages haben sich so weit bewährt, dass OPEN VIERTEL 2023 als Blaupause für die zukünftigen Jahre dienen kann:

Auf vier Plätzen mit Musikbühnen konnten die Besucher*innen ein abwechslungsreiches Programm auf sich wirken lassen. Für jeden der vier Plätze waren jeweils eigene Veranstalter*innen verantwortlich, die als Gastgeber*innen auch die Speisen- und Getränkeauswahl gestaltet hatten. Rund um die Plätze öffneten Gastronomien, Galerien, soziale Einrichtungen, Tanzschulen und Unternehmen ihre Türen. Dort konnte man zu vergünstigten Preisen essen und trinken, Vorträge und Führungen besuchen, in Fitness- und Tanzkurse hineinschnuppern oder die Arbeit von Werkstätten und Manufakturen kennenlernen. Entsprechende Termine und Standorte findet man stets aktuell in der viertel.app.

Die digitale Schnitzeljagd nach begehrten Merchandising-Produkten bot einen starken Anreiz, die Läden der Gewerbetreibenden aufzusuchen. Auf viertel.app registrierte Nutzer konnten bei der digitalen Schnitzeljagd durch das Bahnhofsviertel Punkte sammeln und diese in der Kaiserstraße 67 im ADticket Stage Café gegen schöne und nützliche Dinge eintauschen.

Text: rek
Fotos: DaN, MJP

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